Ein Privileg (Plural Privilegien, von lateinisch privilegium „Ausnahmegesetz, Vorrecht“) ist ein Vorrecht, das einer einzelnen Person oder einer Personengruppe zugeteilt wird.
Das sagt das Internet.
Das sagt die Welt.
Heute frage ich mich: bin ich eigentlich privilegiert? Jetzt und hier? Hier und jetzt?
Und warum eigentlich (nicht)?
Ich habe heute dieses Video auf Facebook entdeckt. Es wurde zu diesem Zeitpunkt 83 Millionen Male abgespielt, eine halbe Millionen Male geliked und 1,6 Millionen Male geteilt.
Ich habe dieses Video heute angeschaut und es hat mich sehr getroffen. Es hat mich sehr getroffen, weil ich in der letzten Reihe stehen geblieben bin. Dieses Video ist eine gelungene Analogie, die alle betrifft, in der sich aber nicht alle wiederfinden können, weil sie nicht Teil dieses Videos sind. (Und weil es auch eigentlich ein bißchen doof ist.)
Aber nicht so schlimm.
Es hilft.
Es hilft einen ganz unterschwelligen Missstand zu erklären, den Menschen erleben. Und dieser Missstand passiert uns nicht auf dem Sportplatz, sondern im echten Leben.
Manchmal schnürt sich mir die Luft ab, wenn ich mich auseinandersetze, mit dieser Welt, mit meinen Mitmenschen. Es ist kein gutes Gefühl, das sich dann in mir breit macht in diesen Momenten.
Und sie kommen leider ziemlich oft vor.
Es sind die Momente, in denen mir klar wird, dass ich in einer Gesellschaft lebe, in der viele meiner Mitmenschen privilegierter sind, als ich. Und umgekehrt.
Denn Privilegien werden ausgespielt.
Sie gewinnen.
Meistens.
Ständig.
Ich schreibe das jetzt, heute und hier. Nicht, weil ich denke, dass ich irgendetwas damit erreichen kann. Nicht, weil ich denke, dass ich verloren habe. Sondern weil ich es einmal rauslassen möchte, aus mir raus, auf diese Welt.
Die Analogie funktioniert nämlich gut: alle stehen an selber Stelle, wenn sie ankommen. Sie sind alle Menschen, Seelen, Körper. Werden geboren – und es geht los.
Die Grundvoraussetzungen sind bei Menschen so grundverschieden, wie grundverschieden sie nunmal sind. Je nachdem wo und von wem sie geboren wurden. Trotzdem macht sich jeder Mensch auf den selben Weg. Jeder Mensch bricht auf, um sein Leben zu leben. Jeder Mensch hat Träume, Phantasien, Vorstellungen und Lieben. Jeder Mensch will sich diese Träume, Phantasien, Vorstellungen und Lieben in seinem Leben erfüllen.
Ich selbst sehe mein Leben und ich reflektiere sehr viel darüber. Und das nicht erst seit gestern. Ich schreibe ein Tagebuch, seit ich 12 bin. Und ich lebe mein Leben. Ich sehe, wo ich bin, wo ich war, wo ich herkomme, wo ich noch hinwill. Ich sehe die Welt und ich sehe meine Nachbarn. Ich sehe meine Mitmenschen. Ich rede sogar mit ihnen, höre ihnen zu. Ich bin hier und ich bin hier wo ich bin, mit meinem Körper und meinem Kopf, weil ich zur Schule gegangen bin, weil ich studieren gegangen bin, weil ich arbeiten gegangen bin. Weil ich es durfte. Weil einige Menschen mir zugehört haben. Und weil ich damit begonnen habe, meinen Träumen nachzugehen.
Aber wie es zu alldem gekommen ist, das sieht mir kaum jemand an. Kaum jemand, fast niemand, sieht den Weg, den ich gegangen bin. Niemand sieht das, was vor dem jetzt war und niemand sieht das, was noch vor mir liegt.
Das ungute Gefühl kommt also dann ganz oft, wenn ich mit Menschen “auf meiner Höhe” in Austausch bin. Wenn ich irgendwie merke, dass wir zwar auf selber Höhe sind – ich aber irgendwie einen längeren Weg gelaufen bin. Und das nicht, weil ich einen längeren Weg laufen wollte oder weil ich mich verlaufen habe. Sondern weil mir nichts anderes übrig geblieben ist, als diesen ziemlich langen Weg auf mich zu nehmen, um mich dorthin zu bringen, wo ich heute bin.
Und überhaupt, gibt es dann auch das “auf einer Höhe” nicht mehr. Denn eigentlich ist man als Weitgereister ja schon viel weiter. Aber wer vom Nordpol Richtung Rom läuft, der trifft halt Leute, die sind in Hamburg gestartet. Oder in München. Alle auf dem selben Weg. Treffen sich. Selbes Ziel, selbe Entfernung, selber Weg. Nur, wenn man am Nordpol gestartet ist (denn da gibt es bekanntlich nicht viel, haha), dann hat man halt schon ein paar mehr Kilometer hinter sich. Zwischendurch ist schon einiges verloren gegangen. Nicht zu reden von den Gedanken, die man beim Reisen schon verschwendet hat.
Das klingt vielleicht alles ein bißchen abstrakt. Aber zur Verdeutlichung ist ja das oben gemeinte Video verlinkt.
Diesen Prozess in Form eines langen Weges, bzw. einer langen Reise zu beschreiben, funktioniert zwar irgendwie am Besten, aber dieser Vergleich ist auch nur eine klapprige Krücke für das, was tatsächlich geschieht. Jedes Wort, das zu beschreiben versucht, schränkt auch gleichzeitig wieder ein. Denn für den Lauf des Lebens gibt es keinen Maßstab und es ist am ehesten ein spiritueller Weg, den man geht. Und jeder geht ihn anders.
Und wo ich mit diesen Worten überhaupt hinwill, das weiß ich gerade auch nicht wirklich. Eigentlich ist es wie ein Schritt zurück. Darüber nachzudenken ist ein Symptom. Es wirft mich zurück. Es sind Erschöpfungserscheinungen.
Es ist schwierig als ein solcher Mensch Bindungen zu bestehen, wenn man damit beschäftigt ist, sich aus der letzten Reihe vorwärts zu bewegen. Wenn man sich seinem Schicksal nicht hingibt, sondern die Reise auf sich nimmt. Dann durchläuft man viele Phasen. Und wenn man es ein wenig eilig hat, dann durchläuft man viele Phasen schnell. Und es gibt viele Menschen, die sich in bestimmten Phasen etwas länger aufhalten, als man selbst. Die bleiben dann auf einem Streckenabschnitt, nicht unbedingt stehen, aber halten sich auf. Und man lässt sie hinter sich. Und vielleicht holen sie einen auch irgendwann wieder ein. Weil man sich selber hat aufhalten lassen. Und so weiter.
Diejenigen, die einem am Nächsten sind – weil sie entweder Teil der Kindheit oder der eigenen Familie sind – die sind einem möglicherweise irgendwann am Entferntesten, weil sie sich niemals auf die Reise gemacht haben. Und mit ihrem Schicksal möglicherweise voll und ganz gefordert sind. Und dann ist man allein.
Aber es muss trotzdem irgendwie weitergehen.
Ich habe zuletzt irgendwo gelesen, dass es soetwas wie den “selbstgemachten Menschen” gar nicht gibt. Den “Selfmade Man” – eine Person, die es von ganz unten nach ganz oben geschafft hat – der amerikanische Traum sozusagen. Eine utopische Figur. Denn es stimmt. Einen Weg von unten nach oben kann man nur machen, wenn es überhaupt ein Dazwischen gibt. Im Dazwischen da sind viele Menschen und jeder dieser Menschen, dem der “selbstgemachte Mensch” begegnet – jeder Mensch hilft auf seine eigene Art und Weise, damit der “selbstgemachte Mensch” weiterkommen kann. Und umgekehrt. Bestenfalls. (Wer es merkt.) Also ‘machen’ wir uns alle irgendwie gegenseitig. Und es ist wichtig, dass wir alle das merken, dass es keine “selbstgemachten Menschen” gibt. Dass wir alle voneinander abhängig sind und uns alle gegenseitig formen. Ob wir wollen, oder nicht. (Und ein oben oder unten gibt es sowieso auch gar nicht..)
Das ist viel.
Zum Verstehen.
Darum – um zum Schluss zu kommen – und was ich eigentlich auch nur sagen will:
Jeder Mensch sollte einmal öfter darüber nachdenken, mit welchen Privilegien er in sein Leben getreten ist. In welche Familie er geboren worden ist. Wieviel Liebe ihm geschenkt worden ist. Und von wem.
Jeder sollte einmal öfter darüber nachdenken, welche Menschen er zu seinen Freunden zählen darf. Welche Region der Erde er seine Heimat nennen darf. Und welches Haus sein Heim.
Jeder Mensch sollte einmal ganz fest darüber nachdenken, wer ihm dabei geholfen hat, dort zu sein, wo er heute ist. (Oder auch nicht. Dann weiß man, dass man auf einem holprigen Streckenabschnitt ist 😅.)
Und wenn jeder Mensch seine Mitmenschen zu begreifen versuchte und einmal auch da hin schauen würde, wo diese fremde Seele denn gestartet und welche Phasen sie schon durchlaufen ist: das würde jedem Menschen eine Menge Dankbarkeit lehren.
Und ein riesen Schritt wäre getan.
🙏
Sehr schön, Anna! ❤️
Vielleicht sieht man nicht die lange Reise, die jemand gegangen ist, aber manch ein Gegenüber kann sie spüren.
Du sprichst mir aus der Seele, Anna.
Das freut mich sehr, danke Indre. <3